Gehen oder bleiben?

Da sind sie nun, die letzten Worte für dich. Handschriftlich festgehalten auf einem Blatt Papier. Blaue Tinte auf strahlend weissem Grund trocknete noch in der Stille vor sich hin, während ich, in Schweigen gehüllt, entfloh. Buchstaben, Worte, Sätze warteten geduldig auf dich. Während ich mich hektisch durch die heimatlichen Gassen schlängelte. Die Umgebung, mir verhasst, doch trotzdem bekannt. Das milderte den Schmerz in meiner Brust. Ziellos rannte ich weg, rannte ich fort. Vorbei an kleinen, lächelnden Geschöpfen, die Räuber und Gendarm spielten. Die Genies von morgen, die ich dann nicht mehr erkennen werde. So sorglos sind sie im Zeitalter des Jetzt. Keinen Gedanken verschwenden sie an das Zeitalter des Dann. Ich sah auch sie, die grauhaarigen Alten. Was ich bin, waren sie mal. Was sie sind, werde ich vielleicht. Sie gingen den Weg, den ich gerade gegangen war. Sie wollten dorthin, woher ich kam. Die Spuren auf dem grauen Asphalt waren noch warm von meinen Schritten. Ich habe ihnen den Weg vorgewärmt. Auch das war beruhigend, dieses Wissen. Immerhin eine gute Tat am Tag und dennoch nagte der Schmerz in meinem Inneren, an mir. Jeder Pulsschlag pochte ihn durch meine Adern. Vielleicht finden die grauhaarigen Alten ja alles das, was ich unterwegs verloren hatte. Meinen Mut, meine Kraft, meine Hoffnung, meine Zuversicht, das Hell, was mir abhanden gekommen ist? Sollen sie es doch behalten, vielleicht haben sie mehr davon. Ich kann auch ohne weiter existieren. Fast unmerklich entfernte ich mich mehr und mehr deiner Heimat, die niemals meine war. Verlor mich fast hier und da, im Labyrinth der Straßenecken. Die Hinterhöfe fingen meine blanken Tränen als Münzersatz auf. Kleine Tropfen Salzwasser zierten ihre unsichtbaren Geldkörbe. Ich sah sie dennoch. Sie versperrten mir den Weg, ließen mich stolpern, ließen mich fallen, ließen mich bluten. Doch weiter, weiter war mein Ziel. Weg, weg war mein Wunsch. Jede besiegte Ecke hob den Vorhang für ein neues Gesicht. Anonymität lachte mir entgegen. Unbekanntheit, Fremdheit schaute mich an. Ich sah mich darin wie in einem Spiegel. Unbekannt und fremd war ich mir selbst. Mit der Zeit geworden oder schon immer? Plötzlich sah ich nicht mehr nur mich. Dich sah ich auch. Auf einmal da, wie aus dem Nichts. Dein Antlitz vor mir, neben mir, um mich herum und überall. Das Blei an meinen Füßen erschwerte mir das weiterlaufen, weiter fliehen. Machte es unmöglich. Das beschriebene Blatt Papier wartete doch still und geduldig auf dich. Da solltest du hin. Da solltest du sein, nicht hier, nicht bei mir. Die schönsten Worte habe ich gewählt nur für dich. Gab mir die größte Mühe einer schönen, weiblichen Handschrift. Alles so schön, zu schön vielleicht. Zu schön um wahr zu sein. Da lag es doch. Das weisse Blatt Papier mit blauer Tinte verziert. Wohlklingende Abschiedsworte an dich, an mich, an alles. Ich weiss, dass es da war, da lag, irgendwo und immer noch in meinem Kopf.

3 Gedanken zu „Gehen oder bleiben?

  1. Ein weiser Entschluss, das zu beenden, wo man sich nicht zugehörig fühlt: “Fast unmerklich entfernte ich mich mehr und mehr deiner Heimat, die niemals meine war.”

    Deine Geschichte zeigt Trostlosigkeit auf, die sich doch tröstet an der Umwelt, die du plötzlich mit geschärften Sinnen wahrnimmst und auf die du deine Innenwelt ein wenig beziehst, Und gerade in der dunkelsten Stimmung dieser Galgenhumor: “Ich habe ihnen den Weg vorgewärmt. Auch das war beruhigend, dieses Wissen. Immerhin eine gute Tat am Tag ..”

    Selbstverlorenheit und doch gleichzeitig die Hoffnung auf neue Selbstfindung. Ich will mich nicht zu tief rauslehnen und zu tief in den Text einsteigen, aber allein die Bewegung des Protagonisten, dass er im Laufen ist, symbolisiert schon entweder ein Weglaufen, ein Laufen zu sich selbst oder ein Laufen im Kreis. Es wird sich zeigen beim Ankommen. Aber es ist ja nur eine bewegende und hervorragende Geschichte, die in jedem Detail überzeugt und bis zum Ende die Spannung bewahrt.

    LG PP

  2. Vielen Dank für deine Worte und Zeilen:-) Schön, wenn es dir gefällt. Du liegst mit allem richtig. Es trifft wohl alles zu: das im Kreis laufen, das Weglaufen, das Laufen um sich selbst zu finden oder sich selbst wiederzufinden. Ich denke die Protagonistin braucht selbst noch etwas Zeit um herauszufinden wohin es gehen soll und was richtig und was falsch ist:-)

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